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17. Juni - Reden zum Tag der Deutschen Einheit, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1964, Zusammengestellt von Herbert Hupka
Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer
Über 100 000 Berliner waren vor dem Schöneberger Rathaus versammelt, als diese Rede gehalten wurde.
Neun Jahre ist es nun her, seit in Ost-Berlin und in der Sowjetzone der Aufstand ausbrach gegen die sowjetzonale Besatzung und gegen die deutschen Kommunisten, die ihre Mitmenschen unterdrückten und quälten. Es wurde das Standrecht verkündet, zahlreiche Erschießungen wurden vorgenommen, Tausende wurden verhaftet und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, bis der Aufstand der wehrlosen Bevölkerung gegen die brutale Gewalt zusammenbrach. Seit 1945 sind rund 200.000 Menschen in der Sowjetzone aus politischen Gründen zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt worden - und das wegen Tatbeständen, deretwegen in keinem zivilisierten Lande überhaupt eine Strafe ausgesprochen werden würde. Als die Gewalt von den sowjetischen Stellen auf die deutschen kommunistischen Stellen überging, brachte das keine Erleichterung für die Deutschen, im Gegenteil, der Druck wurde härter und härter.
Über drei Millionen Menschen haben die Zone auf dem Wege der Flucht in die Freiheit verlassen. Sie sind geflohen unter Aufgabe ihres Eigentums, ihres Grund und Bodens, soweit sie noch Grund und Boden zu eigen nannten, unter Trennung von Verwandten und Freunden, unter Trennung von ihrer Heimat. Sie sind geflohen, um bei uns die Freiheit wiederzugewinnen, die ihnen in der Sowjetzone genommen war. Fürwahr, damit haben die Deutschen, hat das deutsche Volk ein Bekenntnis zur Freiheit abgelegt, wie es kaum je in einem Volke gegenüber fortgesetzter Gefahr und Unterdrückung Jahr für Jahr abgelegt worden ist.
Am 13. August des vergangenen Jahres wurde die Mauer errichtet, die den Ostsektor von Berl.in und die Sowjetzone von der zivilisierten Welt trennen soll. Trotz der Errichtung dieser Mauer, obwohl so viele Menschen bei dem Versuch, in die Freiheit zu gelangen, den schwersten Strafen, ja dem Tod ausgesetzt waren, geht die Flucht in die Freiheit unentwegt weiter. Erschütternd sind die Dramen, die sich hier abspielen. Noch in den letzten Tagen ist ein 15jähriger Junge beim Durchschwimmen eines Kanals von den Schüssen der Volkspolizisten zerfetzt worden. Und noch vor ganz kurzer Zeit ist ein zwölfjähriges Kind, als es zu uns herüberkommen wollte, durch einen Lungenschuss niedergestreckt worden, und man hat das Kind stundenlang liegen lassen. Beim Abtransport ist es gestorben.
Mich ergreift es immer mit tiefer Trauer und mit zorniger Erbitterung, wenn ich in der Bernauer Straße stehen und sehe, wie diese Mauer dort immer höher und höher errichtet worden ist, und wie die Volkspolizisten mit Gewehren davor stehen, um auf wehrlose Menschen nach hier zu schießen. In der Geschichte des deutschen Volkes wird dieser stillbare Drang der Deutschen zur Freiheit mit goldenen Lettern verzeichnet werden. Aller derer, die bei dem Versuch, zu uns zu kommen, gefasst und bestraft worden sind, die sogar ihr Leben haben lassen müssen, wollen wir heute mit Hochachtung und mit Ehrfurcht gedenken.
Mit Entsetzen fragt man sich, warum das alles geschehen muss. Warum man gerade in unserer Zeit, in der Millionen und aber Millionen bis dahin kolonialer Völker ihre Freiheit bekommen haben, in der sich auch Sowjetrußland zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannt hat, etwas Derartiges geschehen kann und warum es von der Welt geduldet wird. Ich meine, die ganze Welt müsste sich mit Empörung und Abscheu gegen derartige Methoden wenden, wie sie von deutschen Kommunisten in der Sowjetzone, gestützt durch die Macht der Sowjetunion, angewandt werden. Vergeblich fragt man sich, was das Ganze denn für einen Sinn und einen Zweck haben soll. Ob denn wirklich Sowjetrußland, das hinter den kommunistischen Machthabern der Sowjetzone steht, glaubt, mit solchen Methoden etwas zu erreichen für den Frieden in der Welt, den ja auch die Sowjetunion zu ihrer Entwicklung dringend braucht.
Der heutige Tag, der 17. Juni, ist durch ein Bundesgesetz zum "Tag der Deutschen Einheit" bestimmt worden. In der Präambel zu diesem Gesetz heißt es:
"Am 17. Juni 1953 hat sich das deutsche Volk in der Sowjetzone und in Ost-Berlin gegen die kommunistische Gewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheit bekundet. Der 17. Juni ist dadurch zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheit geworden. Jedes Volk braucht ein nationales Symbol, braucht einen Tag, an dem es sich zu seinen Zielen bekennt."
Das deutsche Volk bekennt sich an diesem Tage zur Freiheit und zur Einheit, und das ist wahrhaftig das vornehmste Ziel, das sich ein Volk setzen kann. Die Geschichte kennt Beispiele, in denen ein Volk seine Freiheit und seine Einheit nach langer, langer Zeit wiedergewonnen hat. Erst nach 150 Jahren hat die polnische Nation ihre volle Einheit zurückgewonnen. Wenn Polen auch zur Zeit gegen uns steht, so müssen wir uns doch ein Beispiel nehmen an einem so starken und festen Willen, der das Nationalgefühl der Polen trägt.
Wir wollen heute die der Freiheit Beraubten, die Deutschen in der Zone, auffordern, ihrem Sehnen nach Freiheit treu zu bleiben, treu zu bleiben ihrem Sehnen nach der Wiedervereinigung mit uns. Und in gleicher Weise möchte ich an Sie hier in West-Berlin die Bitte richten, festzuhalten an Ihrer Zuversicht, daß auch Sie eines Tages wieder ganz frei in einem wiedervereinigten Deutschland leben werden. Wir alle können um so zuversichtlicher, um so fester im Vertrauen sein, daß unsere Wünsche in Erfüllung gehen werden, weil alle freien Völker in der Welt, insbesondere aber die drei westlichen Mächte, die USA, Frankreich und England, zu uns und unseren Wünschen stehen. Ich habe gestern einen Gruß von dem amerikanischen Außenminister Rusk bekommen, den ich wörtlich wiedergeben möchte:
"Anlässlich des Tages der Deutschen Einheit möchte ich Sie unseres mitfühlenden Wissens um die zahlreichen persönlichen Nöte versichern, die durch die Teilung Deutschlands verursacht sind, sowie unserer fortdauernden Hoffnung, daß Deutschland in Frieden und Freiheit wiedervereinigt wird."
Ich möchte aber auch heute an die Deutschen, die in der Bundesrepublik leben, die sich dort der Freiheit erfreuen, ein ernstes Wort richten. Ich bitte Sie, doch niemals die Deutschen in der Zone und in Ost-Berlin zu vergessen. Ich bitte Sie, alles zu tun, um die menschlichen und die geistigen Verbindungen mit ihnen aufrecht zu erhalten. Ich glaube, es ist wohl angebracht, wenn wir Deutsche, die wir frei sind, an einem solchen Tage wie dem heutigen uns wieder einmal klar darüber werden, wie viel besser wir uns doch seit dem Ende des Krieges gestanden haben und wie wir den Segen der Freiheit an uns empfinden konnten. Wenn wir daran denken, nicht nur heute, sondern immer wieder daran denken, dann wollen wir unseren festen Willen neu bekräftigen, alles zu tun, um uns allen die Freiheit wieder zu gewinnen.
In der letzten Zeit habe ich mich wiederholt öffentlich an die Sowjetregierung gewandt. Ich möchte es auch heute tun, weil die Sowjetregierung den Machthabern in der Zone die Gewalt gibt. Stärker als brutale Gewalt ist immer der Geist. Dem Geist gehört die Zukunft, nicht der brutalen Gewalt. Die Sowjetregierung hat es in der Hand, das Gewaltdenken zu bannen und auf der ganzen Erde dem freiheitlichen Denken die freie Bahn zu geben. Noch immer sind Opfer des 17. Juni 1953 in Gefängnissen und Zuchthäusern der Zone. Es wäre ein mit Hoffnung erfüllter Beginn einer neuen Ära von Verhandlungen, wenn diesen armen Menschen endlich die Freiheit wiedergegeben würde.
17. Juni 1962
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