17. Juni - Reden zum Tag der Deutschen Einheit, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1964, Zusammengestellt von Herbert Hupka


Jakob Kaiser
Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen

Am 23. Juni 1953 fand in Berlin für die Opfer des Aufstandes eine Trauerkundgebung statt. Auf der Kundgebung sprachen der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, und Berlins Regierender Bürgermeister, Professor Ernst Reuter

Wir Deutsche haben lernen müssen: Gewaltherrschaft kann nur durch Opfer überwunden werden. Die Toten hier vor uns und alle jene, die in diesem Juni-Aufstand in Ost-Berlin und in der Sowjetzone sterben mußten, haben das Opfer ihres Lebens für Deutschland gebracht. Diese Toten sind Blutzeugen dafür, dass das System der Gewalt den Willen zu Freiheit und zu Menschenwürde nicht auslöschen, nicht vernichten kann. Der 16.und der 17. Juni waren der Aufstand des Menschen gegen ein Diktatsystem ohne Menschlichkeit, es war der Aufstand gegen die Unnatur, ein Volk zu zerreißen, es war der Aufstand gegen den Wahn, 18 Millionen ein fremdes und menschenunwürdiges System aufzwingen zu wollen. Daß dieser Aufstand erfolgte trotz Waffenlosigkeit auf der einen und trotz Panzer und Maschinengewehre auf der anderen Seite, zeugt für die abgrundtiefe Abneigung gegen das aufgezwungene System.

Wir, die wir uns für die Bevölkerung jenseits der Sektoren- und der Zonengrenze mitverantwortlich wissen, glaubten immer wieder, mahnen zu sollen, sie solle sich nicht provozieren lassen, sie solle von Aktionen absehen, die ihr Leben in Gefahr bringen könnten. Aber heute wissen wir alle miteinander mehr denn je: Es gibt ein Maß von Demütigung, von seelischer und materieller Not, das kein Volk zu ertragen vermag. Diese Not war es, die friedliebende deutsche Arbeiter mit bloßen Händen gegen ihre Unterdrücker angehen ließ. Die Normenerhöhung war dabei nur der letzte Anstoß, der die Explosion auslöste.

Mit Bewunderung und mit Schmerz haben wir die Erhebung verfolgt. Die Träger und die Nutznießer des augenblicklichen Systems in Ost-Berlin und in der Zone wissen genau so, wie wir es wissen, daß es die seelische und die materielle Not war, die die ausgebeuteten Menschen auf die Straße getrieben hat. Zuletzt verschlug ihnen der Mut der Arbeiterschaft die Sprache. Sie hatten ihrer Macht zu sehr vertraut, aber vor der Entschlossenheit der deutschen Bevölkerung fiel diese Macht in ein Nichts zusammen. Erst die sowjetischen Panzer retteten das Grotewohl-Regime und seinen Apparat. Und nun versucht man uns der Anstiftung des Aufstandes zu bezichtigen, aber alle Welt fragt sich: Wem versucht dieses Regime von fremder Herren Gnaden eigentlich noch Sand in die Augen zu streuen? In Berlin und in der Zone drüben hatten kommunistische Propaganda und Praxis längst Schiffbruch erlitten. Wem das noch nicht klar war, dem hat es dieser Juni-Aufstand bewiesen. In der Bundesrepublik hat diese Propaganda von jeher nur Naive und Narren betört. Diesen Leuten haben nunmehr deutsche Arbeiter eine umso deutlichere Lehre erteilt. Die sowjetische Besatzungsmacht aber weiß sicherlich längst, wie sie die Werkzeuge ihrer Macht einzuschätzen hat. Wenn sie es aber noch nicht gewußt haben sollte, dann haben es ihr diese Junitage jetzt deutlich vor Augen geführt.

Es ist nicht gut, mit Verrätern des deutschen Volkes und der deutschen Arbeiterschaft Politik zu machen. Wer echten Frieden in der Welt und unter den Völkern will, muß Charakter, muß Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmung eines jeden Volkes achten. Er muß das Gesetz beachten, dass man ein Volk nicht ungestraft und ohne Gefahr für den Frieden der Welt auseinanderreißt und getrennt hält. Mehr als alle politischen und mehr als alle diplomatischen Worte zeugen die Opfer des Juni-Aufstands für die Wahrheit dieses Naturgesetzes. Diese Opfer hier vor uns und die von drüben im Ostsektor von Berlin und in der Sowjetzone haben einer wirklichen Friedenspolitik den einzig richtigen Weg gewiesen: Beseitigung des kommunistischen Systems in der Sowjetzone und Beseitigung der Teilung unseres Landes. Dabei vergessen wir nie, daß unsere Wiedervereinigung Verhandlungen und Verständigung der Großmächte zur Voraussetzung hat. Die Verhandlungen müssen und werden kommen. Wer immer die Sprache des Juni-Aufstands verstanden hat, ob im Osten oder im Westen, der weiß heute, daß das ganze deutsche Volk hinter den Rufern und Kämpfern Ost-Berlins und der Zone steht. Es könnte das auch gar nicht anders sein, denn der Freiheitswille der 18 Millionen hat sich in der schwersten Prüfung bewährt, die je ein Volk zu ertragen hatte.

Wir bekennen uns zum Vermächtnis unserer Toten. Wir bekennen uns vor Gott und unserem Volk dazu, dass jeder politische Weg gegangen werden muß, der Not und Unfreiheit in der Zone so schnell wie möglich beseitigt. Wir bekennen uns zu einer Politik der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, die dem entschlossenen Willen der Männer und Frauen zum 16. und 17. Juni gerecht wird. Das Opfer der Toten, das Leid und der Mut der 18 Millionen verpflichten uns!

23. Juni 1953