TEIL I: Die fünfziger Jahre
Die "historische Mappe".
Aktionen und Reaktionen der Schriftsteller und des Deutschen Schriftstellerverbandes
Im Archiv des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) hat sich eine Mappe erhalten, in der sich "Stellungnahmen und Berichte zum 17. Juni 1953" befinden. Es handelt sich um 57 Texte von 41 Schriftstellern, die damals auf Initiative des Verbandes zustande kamen. Dabei ist vermerkt, daß davon bisher nur 24 Beiträge in der Presse veröffentlicht worden seien und es wird beklagt, daß zu wenige Redaktionen dieses Material in ihre Arbeit einbezogen hätten. Insbesondere von der Zeitung "Tribüne" sei unverständlicherweise "alles" zurückgegeben worden. Die Texte, die nicht komplett vorliegen, geben sowohl aktuelle politische Berichte wieder, wie sie im Falle einer Reihe von Leipziger Autoren einen Einblick in die offensichtlich von der Verbandsleitung geforderten sozialpolitischen Aktivitäten vor Ort erlauben (Stiftung Akademie der Künste, Archiv des Schriftstellerverbandes, Sign. 313).
Neben hinlänglich bekannten, bereits damals kontrovers aufgenommenen Äußerungen wie denen von Kurt Barthel ("KUBA"), der die Bauarbeiter im "Neuen Deutschland" (20.6.1953) ausschimpfte und sie aufforderte, sich zu schämen ("Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird. Zerstörte Häuser reparieren, das ist leicht. Zerstörtes Vertrauen wieder aufrichten ist sehr, sehr schwer"), finden sich weitere Beiträge wie die von Dieter Noll oder dem Arbeiter-Schriftsteller Paul Körner-Schrader, die vor allem das "Putsch-Abenteuer" und die Beteiligung von "westberliner Elementen" betonen. Die Publizistin Cläre M. Jung berichtet von einer Straßen-Diskussion, in deren Verlauf sich die meisten von den Randalierern distanzierten und die beruhigende Präsenz der sowjetischen Panzer Unter den Linden gutgeheißen hätten. Lenka von Koerber, Verfasserin vielbeachteter sozialkritischer Bücher über die Zustände in deutschen Gefängnissen vor 1933 und der Reportagen "Verirrte Jugend" (1952), verhandelt in Leipzig über die Verbesserung der sozialen Betreuung der Kinder von Angestellten der Verkehrsbetriebe. Man erfährt, daß von ca. 2.500 Kindern bisher nur 150 untergebracht werden konnten, was die Autorin zur Feststellung des Widerspruchs veranlaßt: "Einerseits die Berufsarbeit der Frau zu propagieren, andererseits die Fürsorge für ihre Kinder zu ignorieren wird in der Zukunft zu Mißständen führen, die schwerwiegend werden können."
Auch der Bericht Wieland Herzfeldes, des bekannten Malik-Verlegers und zu diesem Zeitpunkt Literaturprofessor an der Leipziger Universität, aus den Leipziger Graphischen Werkstätten gibt einen informativen Einblick in die Situation der Betriebsangehörigen: im Betrieb sei am 17. und 18. Juni nicht gestreikt worden und die Belegschaft sei vollständig erschienen. Die Stimmung im Betrieb sei jedoch "mißmutig" wegen wiederholt vorgebrachter, aber nicht ausgeräumter Beschwerden. An erster Stelle stehe dabei die schon lange versprochene Revidierung des Lohngruppenkatalogs, weshalb sich die ungerechte Entlohnung fortsetze. Die Drucker dieses Werkes seien ehrlich bemüht, sich für den Aufbau einzusetzen, "Ihre Haltung ist nicht ablehnend gegenüber der heutigen Politik. Sie sind - zumindestens der größere Teil - allerdings auch keine überzeugten Staatsbürger; sie vertreten vielfach noch Ansichten der 'früheren' Sozialdemokratie. Berufen sich dabei häufig sehr stichhaltig auf neue und zurückliegende Zeitungsartikel, die einander widersprechen. Verurteilen Schönmalerei in Funk und Zeitung." Mit Skepsis und Mißtrauen würden sie jetzt die Versprechungen der Regierung beobachten, wollten erst Beweise sehen. Die Haltung gegenüber der Sowjetunion (von 483 Kollegen seien 120 Mitglied der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft) sei immer noch beeinträchtigt durch die Demontage im Betrieb, jedoch werde anerkannt, daß der Betrieb in den Jahren 1946-1949 seine Existenz zum größten Teil sowjetischen Druckaufträgen verdanke. Bemängelt werde generell die ungenügende Abstimmung zwischen Druckerei und Buchbindereien, wodurch in nächtlichen Sonderschichten gedruckte Bücher und Zeitschriften dann liegen blieben. Abschließend vermerkt Herzfelde die "Verhaftung des Buchdruckers Heinz Heinke, geb. 3.9.1934", der wegen "seines Verhaltens innerhalb der Demonstration am 17. Juni d. Js." am "18. 6. im Betrieb verhaftet und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt" worden sei. "Die Belegschaftsmitglieder sind über das Urteil stark verstimmt. Heinkes Verhalten am 17. 6. wird für unerklärlich gehalten, da Heinke bisher nur als überzeugter Anhänger der Deutschen Demokratischen Republik bekannt war; innerhalb der FDJ-Betriebsgruppe war er ein bewußter Funktionär, außerdem wurde er als Facharbeiter sehr geschätzt. (Bestarbeiter, als Aktivist vorgeschlagen) Koll. Klotz ist von seinem guten Charakter überzeugt und kann sich den Fall nicht erklären. Heinke arbeitete bis zu Schichtwechsel und schloß sich auf der Heimfahrt der Demonstration an, vielleicht unter dem Einfluß einer Massenpsychose."
Von Karl Grünberg, dem erfahrenen Arbeiterkorrespondenten der Weimarer Republik, stammen gleich ein Dutzend "Berichte", in denen er vor allem "Volkes Stimme" zu Wort kommen läßt.
Da wettert ein Chemiearbeiter gegen die "Presse neuen Typhus" (!), die mit ihren "Oedereien" (seitenlange Begrüßungsschreiben von Staatsmännern etc.) und ihrer "verkrampften Schwarz-Weiß-Malerei" die Arbeiter für dumm verkaufen wolle. Man fühle sich veralbert und betrogen und schalte daher allabendlich den RIAS ein. ND-Chefredakteur Herrnstadt, der in einer Betriebsversammlung gemeint habe, die Arbeiter hätten sich zu schämen, solle sich lieber zusammen mit den Redakteuren und Parteisekretären selber schämen, "daß sie es so lange fertiggebracht haben, über die Köpf der werktätigen Massen hinweg zu schreiben!"
Ein "langjähriger Parteifunktionär" sieht in der planmäßigen Ausbootung der Volkskorrespondenten in der Parteipresse eine Ursache für den mangelhaften Realitätsgehalt der Berichterstattung.
Eine "Kunstgewerblerin" kritisierte die "merkwürdige Passivität" des DDR-Funks, der Tanzmusik statt Informationen von den Geschehnissen gebracht hätte, was dazu geführt habe, daß man den RIAS habe hören müssen, um informiert zu sein.
In dem Bericht Nr. 12 "Was sagen die SED-Genossen?" (Vertraulich, nur zur Information!) gibt Grünberg einen höchst aufschlußreichen Querschnitt der innerparteilichen Befindlichkeit, ohne Namensnennung, wie von den Befragten erbeten, "ein Zeichen für die ungesunde innerparteiliche Atmosphäre". Gemeinsam sei allen "eine tiefe Depression darüber, daß die Partei, die gestern noch so stolz auf den großen Erfolgsstraßen des Sozialismus marschierte, heute den vollkommenen Zusammenbruch dieser Politik feststellen mußte! Wie konnte das geschehen? Darüber grübeln Unzählige nach, die unserer Partei z.T. seit Jahrzehnten durch dick und dünn gefolgt sind; alle Enthüllungen über die Putschisten aus dem Westen können diese Tatsache des Zusammenbruchs unserer auf den Sozialismus ausgerichteten Politik nicht aus der Welt schaffen bzw. beschönigen." An Ursachen werden zusammengetragen: die Partei habe es nicht verstanden, das Vertrauen der Massen zu erlangen, die Parteiführung habe sich an "Erfolgsmeldungen" berauscht und die schönfärberischen Bilder der Parteipresse mit der Realität verwechselt. "Kritische Stimmen kamen kaum jemals zu Wort. Es fehlte jede direkte Verbindung mit den Massen und den Verantwortlichen oben, stand eine unnatürlich aufgeblähte Bürokratie, die nach oben immer nur das berichtete, was man dort gern hören wollte und alle Kritik wie mit einem Filter absorbierte. Andernfalls fürchtetet man in Ungnade zu fallen (...), weil man oben der Meinung war, daß eben die Massen schon viel weiter sind. Diese Selbstgefälligkeit in unseren führenden Schichten ist die Wurzel allen Übels! Wer widersprach, wurde leicht als 'Bremser', Opportunist usw. diffamiert bzw. gemüllert. So kam es, daß die Genossen des ZK bereits schon mit dem Kopf in den sozialistischen Himmel ragten (...), während das untere Volk, dessen Lage mit den Stromabschaltungen, dem Mangel an Kohle, Margarine, Gemüse sowie der Verteuerung wichtiger Lebensmittel und zahlreichen anderen Verschlechterungen blutige Glossen über diese Art Sozialismus riss (...) und seinen Trost beim RIAS suchte!"
Weiterhin wurde die "überdrehte Partei- und sonstige politische Schulungsarbeit" angeführt, die mit Phrasen und Thesen statt mit praktischem Sinn durchgeführt werde. Viel zu viele hauptamtliche Funktionäre betrieben einen "wahren Götzendienst der Zahl", der Grundfehler der innerparteilichen Demokratie bestände darin, daß es niemals gelänge, von unten nach oben zu agieren. Sehr übel vermerkt werden auch die Privilegien der Funktionäre, wie "unverantwortlicher Wohnungsluxus", Dienstwagen, Hausangestellte und "Sonderzuteilungen an Öl, Kaffee, Schokolode, wertvollen Textilien" an bestimmte Partei- und Beamtenkreise zu stark verbilligten Preisen, selbst in einer Zeit, wo die Arbeiterfrau manchmal ihren Mann mit ungefettetem Brot zur Arbeit gehen lassen muß". Dies stimme ganz sicher nicht mit Lenin überein und erinnere dazu noch an die verhaßte sog. Diplomatenverpflegung der braunen Bonzen. Die meisten Befragten finden es beschämend, daß die Sowjets eingreifen mußten: "Unsere Führung hat - das ist ihr Grundfehler - das Klassenbewußtsein unserer Arbeiterschaft weit überschätzt, eine Folge ihrer selbst gewählten splendid-isolation, in der sie ihre Wünsche und Ideen für Wirklichkeit nahm. Etwas ähnliches haben wir schon einmal in den Jahren 1932/33 erlebt, wo wir uns auch allerlei über den wachsenden revolutionären Willen der Massen vorgaukelten. Anscheinend ist nichts gelernt worden." Wenn jetzt auch Partei und Regierung Besserung verspreche, sei man noch längst nicht über den Berg, "denn auf sowjetischen Bajonetten kann man nicht lange sitzen. Wir müssen sehr aufmerksam und mit sehr viel Takt und Überzeugung daran arbeiten, das verschüttete Vertrauen zur Führung wieder herzustellen, auch dasjenige unserer Genossen!"
Die Beiträge von Günter Kunert und Erich Loest zeichnen sich dadurch aus, daß sie mit ihren späteren Darstellungen der Ereignisse auffällig divergieren.
Kunerts dreiseitiger Text "Unter euch war ich", seinerzeit wohl unveröffentlicht geblieben, schildert seine Beobachtungen im Zentrum von Berlin in der Zeit von 10.00 bis 13.30 Uhr: "Vor dem Haus der Ministerien: wogt die Menge, ein Aufpeitscher schreit 'Weg mit der Regierung' : er trägt einen blauen Anzug, unter der Nase ein Hitlerbärtchen und sein Haar militärisch geschnitten - er ist alles andere als ein Arbeiter - er windet sich durch die Menge, nun ist er fort. Der Beifall durch Pfeifen: das lernt man in Amerika: sie tragen gestreifte Nickis, Hosen, die als "Wadenkneifer" bezeichnet werden, Lumberjacks und Kreppschuhe. Überall im demokratischen Sektor begegnet man ihnen an diesem Tag, dem 17. Juni 1953."
Eine Brigade Bauarbeiter am Alex habe gemerkt, was gespielt wird, zu welchen Zielen man ihren Protest umleiten will. "Still erheben sie sich. Sie gehen nach Hause. Sie sind erwacht.
Kein Arbeiter in diesem Zug, nur jene Sorte junger Burschen, die eigentlich nur in Westkneipen (...) und in den Instruktionsstunden des BDJ zu finden sind." Angesichts der Ausschreitungen gegen Fahnen und Embleme "laufen die Menschen bekümmert nach Hause. (...) In der Luft liegt die Stimmung, die Atmosphäre der Kristallnacht. Haben die Leute am Straßenrand die Raudis einen Moment lang in SA Uniform gesehen, dachten sie zurück, wie Schlächter und Aufhetzer von der Willensart vor Jahrzehnten - jagend auf alle Mächte, die für den Frieden waren, für Demokratie, für Sozialismus? Sicher - denn ihre Blicke, ihre Gesichter sagten mehr als Worte sagen können. Sie sagten: "Das wollten wir nicht" - "und mit denen (den jugendlichen Banditen) wird man uns in einem Topf werfen. (...) Das ist wahrhaft kein schöner Gedanke für einen Berliner Arbeiter."
In Kunerts Autobiographie "Erwachsenenspiele. Erinnerungen" (München 1997, S. 176-183) lesen wir die folgende Beschreibung der Juni-Ereignisse. Am Morgen des 17. Juni wurde Kunert von dem aufgeregten Hans-Georg Stengel, Eulenspiegel-Redakteur, abgeholt und nur mit Mühe kamen sie im Auto zum Verlagsgebäude. "Sie wollten unterwegs den Wagen umkippen, wer sie? Das sie bezieht sich auf das häufig beschworene ‚Volk'. Meine Neugier kompensiert meine mangelnde Kühnheit. Daß sich was zusammenbraute, hat man gespürt. Die Normenerhöhung für Bauarbeiter, Gerüchte über Preiserhöhungen, über Lohnkürzungen, alles angetan, Unruhe zu erzeugen.(...) Als wir den Alexanderplatz erreichen, wird uns bänglich zumute. Fäuste klopfen an die Karosserie (...). Wer jetzt in einem Autor sitzt, gehört zur Funktionärskaste (...)."
Im weiteren schildert Kunert einen "einen Junispaziergang (Linden, Alex) einmaliger Art. Was regt sich in mir außer Abenteuerlust wie einst im Mai 1945? Vielleicht Schadenfreude, vielleicht Befriedigung über die kurzfristige Rückkehr einer halbvergessenen Anarchie? Wie einst bin ich der Flaneur, der Beobachter, der registrierende Zeuge, neutral und nicht betroffen, beschwingt und unbesorgt um den morgigen Tag. Noch gleicht der Alexanderplatz einer Wüstenei, gerade mal von Trümmern befreit. Von der Stalinallee her im Marschblock die Demonstranten, schwankende Transparente hoch erhoben. Nicht alle sind Bauarbeiter, nicht alle CIA-Agenten, nicht alle Neonazis, nicht alle Reaktionäre, nicht alle Antikommunisten. Aber alle sind Unzufriedene, Enttäuschte, Haßgeladen, Zornige." Als aus dem Polizeipräsidium Keibelstraße geschossen wurde, entfloh Kunert "keuchend" in Richtung Jannowitzbrücke, wo alles still war. Zu Hause empfängt ihn seine Frau Marianne mit der Mitteilung, daß der Polsterer die aufgearbeitete Couch, "um die man uns beneiden wird", geliefert habe. "Am Radio verfolgen wir, wie der Aufruhr niedergewalzt wird. Sondersendungen, Sondermeldungen, Interviews mit Flüchtlingen im RIAS (...). Die einzigen Konzessionen der Regierung und der Parteiführung sind fromme Sprüche über Liberalisierung und Demokratisierung, Zusagen, die keiner einzuhalten gedenkt. Nach einer Weile zaghafter Toleranz gegenüber kritischen Diskutanten gibt die Partei ihre Parole aus: keine Fehlerdiskussion. Nach vorne diskutieren".
Dem Gebot der Wachsamkeit folgt im Schriftstellerverband nach markigen Ansprachen im Keller die Ausbildung am Kleinkalibergewehr. Eine folgende Übung bei den Kampfgruppen im Grünauer Wald verläßt Kunert bald in "ohnehin gedrückter Stimmung", nicht zuletzt weil sich sein neuer eleganter, doppelreihiger Wintermantel nach italienischem Modell durch dem Nieselregen in einen unförmigen Sack verwandelt hat. "Das reicht!" ihm zu einem "Abschied von der Truppe", an deren Übungen er nie mehr teilnehmen wird.
Was in der autobiographischen Rückschau nun fehlt, sind die Elemente von faschistischer bzw. neofaschistischer Einflußnahme und die Pogromstimmung. Sich selbst stilisiert Kunert als Voyeur, der sich mehr um sein Privatleben als um die historischen Vorgänge zu sorgen scheint. Seine ausgestellte Unbeschwertheit, "neutral und nicht betroffen", wirkt jedoch aufgesetzt und nicht recht überzeugend. Das gewollt Unpolitische seiner Erinnerungen führt hier offensichtlich zu Einbußen an historischer Genauigkeit. Oder waren seine damaligen Wahrnehmungen, die ihn an die Kristallnacht erinnerten, nun nicht mehr erwähnenswert oder gar falsch?
Von Erich Loest befindet sich in der Mappe der 10-seitige Beitrag "Zu den von mir begangenen Fehlern nach dem 17. Juni 1953", in dem er das "objektiv feindliche und schädliche seiner Artikel" einräumt. Dieser vom 4. Oktober 1953 stammende Text, der den vorläufigen Endpunkt des "Falles Loest" darstellte, findet in der Autobiographie "Durch die Erde ein Riß" (zuerst Hamburg 1981) keine Erwähnung, wenngleich die diesem Dokument vorausgehenden Auseinandersetzungen breit geschildert werden. Offensichtlich ist es dem Autor peinlich, wie weit er sich als damaliger Bezirksvorsitzender des Schriftstellerverbandes im stalinistischen Selbstkritik-Ritual erniedrigen mußte.
Begonnen hatte alles mit seinem Artikel "Elfenbeinturm und Rote Fahne" im "Börsenblatt" Nr. 27 vom 4. Juli 1953. Darin hatte er über die Fehler der Presse geschrieben, hatte deren Schönfärberei und deren fast völliges Verschweigen von Mißständen als Grundübel herausgestellt. Nach kurzer Zeit der Offenheit und umfangreicher Information unmittelbar nach dem 17. Juni hätte in der Parteipresse schon wieder das Vertuschen und Beschönigen begonnen. Statt radikaler Selbstkritik, wie sie Grotewohl demonstriert habe, sei nun vor allem von den "Provokateuren" die Rede. "Unsere Zeitungen müssen umfassender informieren (...) und besser kommentieren, weniger phrasenhaft und völlig ungeschminkt. (...) Sie dürfen nicht in jedem einen bezahlten Agenten sehen, der mit einer Maßnahme nicht einverstanden ist. Sie müssen aufmerksam auf das lauschen, was die Massen sprechen, denken, wollen, sie müssen gewissenhaft und liebevoll bemüht auf diese Gedanken, Gefühle und Wünsche eingehen und sie behutsam und geschickt in die Richtung lenken, die den Massen den größten Nutzen bringt. Es nützt nichts, im Elfenbeinturm zu sitzen und die Rote Fahne zu schwingen. Man muß zu diesen Massen hingehen und ihnen die Fahne vorantragen. Die Elfenbeintürme unserer Presse sind durch den 17. Juni ins Wanken geraten. Nun ist es an den Presseleuten selbst und an allen, denen eine wirkungsvolle Presse am Herzen liegt, die schwankenden Massen schleunigst und bis auf die Grundfesten abzutragen!"
Nachdem dieser Artikel zunächst viel Zustimmung fand, wurde er Mitte September 1953 zum Anlaß, Loest als "volksfeindlich" und die "Fahne der faschistischen Provokateure" schwingend zu bezichtigen. Hintergrund war, daß sich zwischen der 14. und 15. Tagung des ZK die "Einschätzung" der Juni-Ereignisse wesentlich geändert hatte. Verlautete noch von der 14. Tagung u.a. "Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der (sic!) Arbeiter", war nun vor allem von "Konterrevolution" und "Putsch" die Rede und davon, daß die Partei aus der Büßerstimmung heraus kommen müsse. Der Ausschluß von Loest aus dem Bezirksschriftstellerverband wurde in Berlin infolge Fürsprache Kubas nicht realisiert. Das Parteiverfahren brachte ihm eine Rüge ein. Als Loest nach dem XX. Parteitag im Herbst 1957 wegen "konterrevolutionärer Tätigkeit" ins Gefängnis gebracht wurde, hielt man ihm auch auch seine "Sünden" aus dem Jahre 1953 vor.
Helmut Hauptmann: "Bericht über meine Erlebnisse und Eindrücke in Leipzig am 17. und 18. Juni 1953" (datiert auf den 24. Juni 1953).
Dieser damals unveröffentlicht gebliebene 4-seitige Text des vor allem durch Reportagen bekannt gewordenen (parteilosen) Autors, der sich in Leipzig zu Studien am Dimitroff-Museum für eine Arbeit über Georgi Dimitroff aufhält, schildert die Arbeiter-Demonstrationen und handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. "Arbeiter liefen in ihrer Arbeitskleidung. Trümmerfrauen waren dabei. Krakelig bemalte Schilder wurden getragen. In der kleinen Beethovenstraße hatte sich vorm Kreisgericht schon die Menge zusammengeballt und johlte. Das alles machte einen vorrevolutionären Eindruck. Jetzt konnte ich auch ein Transparent entziffern. Wir erklären uns solidarisch mit den Berliner Bauarbeitern, stand daraufgepinselt. Und ein Schild schrie ungelenk und lakonisch über die Köpfe hinweg: Nieder mit der Regierung! (...) Vorm Präsidium versuchte eine Handvoll Volkspolizisten, die Straße freizudrücken. Eine fanatisierte Menge warf Steine in die Fenster, und nun auch nach dem Offizier und seinen paar Mann, die mit gezogenen Pistolen den Haufen am erneuten Vordrängen zu hindern suchten. In Bedrängnis abgegebene Warnschüsse - dem Knall nach Platzpatronen - wurden mit höhnischem Gelächter quittiert. Der Offizier blutete übers ganze Gesicht. Als er scharf schießen ließ, stoben die Steinschmeißer auseinander. Ein Mann blieb auf dem Pflaster liegen, regungslos, bizarr. Der Haufen sammelte sich wieder, schleppte den Liegengebliebenen auf den Rasen an der Brücke und brüllte in dumpfem Sprechchor: "Mörder! Mörder! Mörder! ..." Der Autor bekennt seine Bereitschaft, den Staat, die sozialistische Idee zu verteidigen. "Aber ich war auch bereit, die Arbeiter zu verstehen, die demonstriert hatten. Das machte mein Herz schwer." Teile dieses Berichts baute Hauptmann später in sein Buch "Der Kreis der Familie"(1964/1981) sowie in den Text "Über: Kostoff und unser Gewissen" (Neue deutsche Literatur, Heft 3/1965) ein.
Erwin Strittmatter: (ohne Titel)
Erwin Strittmatter, der zu diesem Zeitpunkt mit Brecht an der Katzgraben-Inszenierung am Berliner Ensemble arbeitete, berichtet auf neun Seiten vom 16. und 17. Juni in Berlin. Für das "Neue Deutschland" und die Neue deutsche Literatur vorgesehen, sind mehrere Fassungen davon überliefert, die jedoch alle (und bis heute) unveröffentlicht geblieben sind.
Der Autor möchte mit seinem Schreiben der Arbeiterklasse dienen und befürwortet den "Neuen Kurs".
In einem Gespräch am 16. Juni in der Stalinallee mit einem Maurer habe er dessen und seiner Kollegen Unzufriedenheit über die mangelhafte Arbeitsorganisation erfahren. Der Held der Arbeit, Hans Garbe, solle Beschwerde-Briefe an die Regierung oder an das ZK geleitet haben. Wie und ob sie ausgewertet wurden, wisse er jedoch nicht. Auf einer Arbeiterdemonstration am Strausberger Platz sei eine Normensenkung gefordert worden. "Ich wurde mir der Ungeheuerlichkeit bewusst: Hier demonstrieren, streiken Arbeiter gegen sich selbst." Er habe keine Genossen gesehen, die agitierten. Bei ersten Tätlichkeiten seien Genossen von einem Auto gerissen und geschlagen worden. Am Haus der Ministerien sei längst nicht mehr der ganze Zug angekommen: "die Arbeiter forderten, mit Ulbricht oder Grotewohl zu sprechen. Da nichts geschah, nutzten die Provokateure die Gelegenheit, um faschistische Losungen in die Menge zu pflanzen. Mir wurde bewusst, dass wir eine große Anzahl von Funktionären haben, die in ihren Büros saßen und abwarteten, bis "Befehl" von "oben" kam, sich einzusetzen".
Nicht gehandelt zu haben, sei ein schwerer Fehler gewesen. "Wir haben die Lage unterschätzt. Wir haben dem Gegner und seinen Helfershelfern zuviel Zeit gegeben, Arbeiter aufzuhetzen, die mit einigen unserer letzten Maßnahmen zum Aufbau des Sozialismus nicht einverstanden waren."
Nach Strittmatters Meinung waren es am 17. Juni in der Stalinallee nicht die Bauarbeiter, die sich zuerst zusammentaten. "Es waren unreife Burschen zum Teil aus den Westsektoren, gekaufte Rowdies. Es folgten ihnen zunächst die Kleinbürger, die tags zuvor beifallklatschend an den Straßenrändern gestanden hatten. Ihre Forderungen sollten zwar am 1. Juli von uns erfüllt werden, da es aber "quirlte", wollten sie nicht solange warten. Sie holten ihren Mut aus dem Vertiko und gingen auf die Straßen. Erst später schlossen sich die Bauarbeiter, die zum Teil auf ihre Baustellen gegangen waren, an."
An der Presse vermisse er die ehrliche Kritik und Selbstkritik der Genossen und halte die Vertagung der Aussprache über unsere in der Vergangenheit gemachten Fehler nicht für richtig. "Man muß darüber im Zusammenhang mit der Entlarvung und Verfolgung der Provokateure sprechen. Wie können wir einen "neuen Kurs" einschlagen, wenn wir uns über unsere Fehler in der Vergangenheit keine Klarheit verschafft haben?"
Er schäme sich. "Allerdings nicht wie mein Kollege KUBA für die Arbeiter, die sich von Provokateuren verführen ließen, sondern weil sich gezeigt hat, dass wir nicht genügend mit den Arbeitern verbunden sind. KUBA klagt die Arbeiter ihres mangelnden Klassenbewusstseins wegen an, ich meine, es wäre unsere Sache als Partei gewesen, ihnen dieses Klassenbewußtsein zu vermitteln. Ich schäme mich am meisten vor unseren sowjetischen Genossen. Sie mussten uns zum zweiten Mal das Leben retten."
Wenn aber als Summe achtjähriger Arbeit herauskäme, dass unsere sowjetischen Freunde über Berlin und andere Städte der Republik den Ausnahmezustand verhängen mußten, dann könne manches an unserer bisherigen Arbeit nicht stimmen.
Die Schriftsteller seien dafür zu tadeln, dass sie sich mit wenigen Ausnahmen nicht publizistisch in den Tageszeitungen betätigt hätten, dass sie schwierige Probleme nicht von der menschlichen Seite an die Massen herantragen halfen, dass sie nicht energischer Front gegen das Bürokratendeutsch in den Tageszeitungen und Monatsschriften gemacht hätten. "Wir ließen zu, dass auch in der Kunst administriert wurde. All diese Fehler sind jetzt sichtbar geworden. Es heißt sie so schnell wie möglich auswetzen. Den faschistischen Provokateuren keine Gnade, aber mit den Menschen unserer DDR müssen wir auf menschliche und nicht auf mechanisierte Weise zu reden beginnen."
Überliefert ist eine vom Schriftstellerverband stammende "Stellungnahme: Nochmals zum Charakter des 17. Juni". Darin identifizierte sich der Verband mit Strittmatter, der im Leitartikel des ND vom 9.7.1953 kritisiert worden war, ohne daß sein Text überhaupt abgedruckt worden war. Obwohl dieser Beitrag bestellt und von Strittmatter nach Besprechungen in der Redaktion mehrfach überarbeitet worden war, hatte das ND ihn nicht gebracht, stattdessen zitierte das Blatt aber nun aus ihm. Der Vorwurf des ND, Strittmatter unterschätze die faschistische Provokation, sei - so der Verband - falsch. Strittmatter stelle viele wichtige Fragen zur Partei und künstlerischen Arbeit. Diese Stellungnahme erschien natürlich wiederum nicht, stattdessen der Leitartikel am 12. Juli mit dem Titel "Einigen Knieweichen ins Stammbuch!", womit u.a. auf Strittmatter, aber auch auf Loest gezielt wurde.
[Quelle zu Kurt Barthel, Dieter Noll, Paul Körner-Schrader, Cläre M. Jung, Lenka von Koerber, Wieland Herzfelde, Karl Grünberg, Günter Kunert, Erich Loest, Helmut Hauptmann, Erwin Strittmatter: Stiftung Akademie der Künste, Archiv des Schriftstellerverbandes, Sign. 313]
Bertolt Brecht:
Die verpaßte "große Gelegenheit, die Arbeiter zu gewinnen"
Brecht, der sich Unter den Linden zusammen mit Käthe Rülicke-Weiler und Erwin Strittmatter ein Bild von den Ereignissen gemacht hatte, bekundete am 17. Juni in Briefen an Walter Ulbricht und Otto Grotewohl seine Verbundenheit mit der SED. Da nur diese Passage des Ulbricht-Briefes im Neuen Deutschland am 21. Juni abgedruckt wurde, entfiel u.a. der Absatz: "Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen" (BBGA, Bd. 30, Berlin/Frankfurt a. M. 1998).
An Grotewohl wie auch an Gustav Just vom ZK der SED hatte Brecht Vorschläge zum Auftreten des Berliner Ensembles im Rundfunk gemacht, die unbeantwortet blieben.
Brechts literarische Verarbeitung des 17. Juni setzte fast synchron zu den Ereignissen ein: mit einer Reihe von Gedichten aus dem Zyklus "Buckower Elegien". Darunter das viel zitierte "Die Lösung", das eine Antwort auf KUBAS Bauarbeiter-Schelte war:
"Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?"
(aus: BBGA, Bd. 12, Berlin/Frankfurt a. M. 1988, S. 310.)
Dieses Gedicht bereitete in der Geschichte der Brecht-Edition der Zensurbehörde die größten Probleme. Bekanntlich hatte Brecht seine Rechte zuerst an den Suhrkamp-Verlag vergeben, der das Gedicht bereits 1964 in Band 7 seiner Werkausgabe herausbrachte. Und gezwungenermaßen erschien es nach endlosen Diskussionen durch Helene Weigels Veto 1969 auch in der Aufbau-Ausgabe.
In der "Neuen Mundart" benennt Brecht das auch sprachlich konflikthafte Problem der Parteiarbeit zwischen der Führung und den Massen.
"Jetzt
Herrschen sie und sprechen eine neue Mundart
Nur ihnen selber verständlich, das Kaderwelsch
Welches mit drohender und belehrender Stimme
gesprochen wird"
(aus: BBGA, Bd. 12, Berlin/Frankfurt a.M. 1988, S. 311.)
Die Vorgänge des 17. Juni finden auch Eingang in Brechts Arbeit an dem Garbe/Büsching-Stoff, an dem er seit 1950 mit Käthe Rülicke-Weiler arbeitet. Auf der Grundlage der Lebenserzählung des Ofenmaurers Hans Garbe, der eine neue Norm aufstellt und deshalb für seine Kollegen ein "Arbeiterverräter" ist, sollte ein Stück über die "befreite Arbeit" entstehen. Gedacht war jedoch nicht an ein Produktionsstück, sondern beabsichtigt war ein Text zur "Erzielung einer neuen Menschlichkeit". Im intensiven persönlichen Kontakt zu Garbe erfährt Brecht, daß sich Garbe am 17. Juni, mit all seinen Orden und Ehrenzeichen angetan, dem Demonstrationszug der Bauarbeiter der Stalinallee angeschlossen habe. Dabei sei er erkannt und bedroht worden. Im Oktober 1953 sieht die Stück-Konzeption die Fortführung der Handlung bis in die unmittelbare Gegenwart vor "mit einem vollen Akt über den 17. Juni." Bezüglich der Form ist an den Stil der "Maßnahme" oder "Der Mutter" gedacht, an Elemente des Lehrstücks ebenso wie an den Typus des Parabelstücks. Das Stück "Büsching/Garbe" bleibt jedoch Fragment, in dem Brecht zeigen wollte, wie dieser Arbeiter sich aufrichtet, "in dem er produziert". "Zu untersuchen, was alles sich für ihn und bei ihm ändert, wenn er vom Objekt der Geschichte zu ihrem Subjekt wird - unter der Bedingung, daß dies nicht ein rein persönlicher Vorgang ist, da er ja die Klasse betrifft." Im Fragment erscheint Büsching im Kampf um realistische Normen als tragische Figur :"Die Russen retten die Fabrik. Garbe stirbt."
Ende August 1953 notierte Brecht in seinem "Arbeits-Journal", für ihn habe der 17. Juni "die ganze existenz verfremdet". Seine Vorschläge wurden nicht berücksichtigt und seine Sicht von der Parteiführung nicht geteilt: "es zeigt sich keinerlei kraft der organisation, es entstehen keine Räte, es formt sich kein plan. und doch hatten wir hier die klasse vor uns, in ihrem depraviertesten zustand, aber die klasse. alles kam darauf an, diese erste begegnung voll auszuwerten." Genau das aber passierte nicht, die "große gelegenheit, die arbeiter zu gewinnen" wurde nicht genutzt (BBGW, Bd. 10/II, Berlin/Frankfurt a. M. 1997; Bd. XXVII, Berlin/Frankfurt a. M. 1995).
Stephan Hermlin: Die Kommandeuse (in: Neue deutsche Literatur, 10/1954)
Dieser nur ganze neun Druckseiten umfassende Prosatext ist seit seinem Erscheinen heftig umstritten. Von bundesdeutscher Seite aus sah man in ihm stets eine Illustrierung der These vom faschistischen Putsch und protestierte gegen seine Wiederveröffentlichung in den 70er Jahren. In der DDR war der Text bei Erscheinen wegen seiner "Seelenanalyse einer KZ-Kommandeuse" kritisiert und das Ganze als Ästhetizismus abgetan worden. Wie neueste Forschungen nach der Wende ergeben haben, handelte es sich bei der "Kommandeuse Erna Dorn" um eine Geschichtsfälschung, die dazu diente, den angeblich faschistischen Charakter des Putsches zu beweisen. Bis heute konnte weder die Identität dieser Frau noch ihre angebliche Führungsrolle beim Hallenser 17. Juni 1953 aufgeklärt werden.
Was Hermlin damals als Quellen zur Verfügung stand, war eine konstruierte, aber in sich widersprüchliche Zeitungsberichterstattung und möglicherweise die manipulierten Prozeßakten, in denen vor allem das "Geständnis" der "Erna Dorn" zur "Beweisführung" diente. Was diesen fiktionalen Text, dessen "historische" Grundlagen sich als in höchstem Maße dubios erwiesen haben, bedeutsam macht, ist jedoch das literarisch-psychologische Porträt einer überzeugten NS-Täterin. Ihr geistiger, emotionaler Zustand und Habitus wird so eindringlich beschrieben, daß er viel vom Faszinosum des NS aufscheinen läßt. Das hatte man bis dahin in der Literatur der frühen DDR so noch nicht gelesen, hierin lag das eigentlich Provozierende dieses Prosastückes.
Erich Loest: Das Jahr der Prüfung, Roman, Halle 1954
Eine ganz im Stil des gewünschten Sozialistischen Realismus verfaßte, reichlich triviale Geschichte. Erzählt wird die Entwicklung einer ABF-Gruppe zu einem sozialistischen Kollektiv.
Inge Teubner, Typ Landpomeranze, entwickelt sich an der ABF politisch und lehnt es ab, RIAS zu hören. Der überzeugte Harald Bechstätter, dessen Vater im KZ gewesen ist, wird Parteiorganisator. Bechstätter entflammt zu Ingrid, die es aber nicht bemerkt, da sie eine unglückliche Liebesgeschichte mit dem FDJ-Sekretär Pronberg hat. Dieser will sie bald loswerden und versucht sie deshalb zum Abgang von der ABF zu überreden. Pronberg erweist sich als Karrierist und Schuft, der schließlich in den Westen geht, happy end für Inge und Harald Bechstätter. Konflikte gibt es u.a. im Kollektiv bei der Gründung der GST, Schießen und Marschieren machen einigen keinen Spaß. Aber sie werden überzeugt, denn :"Jeder Pazifist ist ein Handlanger des Imperialismus".
Das Ganze spielt in Berlin, die als Agenten-Stadt vorgeführt wird: "Im Herbst 1952 war die Republik in Gefahr". Direkt kommt der 17. Juni nicht vor, aber es wird gewissermaßen die Vorgeschichte der Ereignisse erzählt, und in den bewussten ABF-Studenten haben wir die "Verteidiger der jungen Republik" vor uns.
Der Roman wirkt in der Handlungsführung kolportagehaft und in der Figurenzeichnung holzschnittartig, denn die politisch Bösen sind immer auch die moralisch Verkommenen.
Werner Reinowski: Die Versuchung, Halle 1956
Dieser Familienroman entwirft ein Bild, in dem die Ereignisse des 17. Juni als vorrangig vom Westen aus angezettelt erscheinen. Erzählt wird die Liebesgeschichte von Rolf und Eva, die gefährdet ist durch die verderblichen Einflüsse des westberliner Kneipen- und Agenten-Milieus. Der Westberliner Angestellte Rolf gerät durch die heimliche Liaison mit Lilo, einer besseren Prostituierten und Agentin, auf Abwege. Lilo reist unter falscher Identität in der DDR herum und wiegelt auf bzw. besorgt Nachrichten aus Industriebetrieben, dies nicht zuletzt unter Einsatz ihrer Weiblichkeit.
Der Vater von Eva, Maurer in der Stalinallee, "baut den Sozialismus auf" und lehnt den windigen Umgang seiner Tochter ab. Infolge Geldmangels gerät Rolf immer mehr in die Fänge einer Agentenorganisation, die ihm für monatlich 300,-Westmark Informationen aus ostberliner Industriebetrieben abverlangt. Just soll er auch Produktionszahlen jener Vergaserfabrik aus dem Ost-Sektor beschaffen, in der (welch ein Zufall) Eva arbeitet. So nimmt die Versuchung ihren Lauf. Dieses Ansinnen Rolfs stürzt Eva in einen tiefen Gewissenkonflikt, den sie nur mit Hilfe des "guten" und klassenbewußten Bruders von Rolf Peter und dessen Vater, dem sozialdemokratischen Metallarbeiter Bracke lösen kann.
Mit amerikanischer Unterstützung werden die Störaktionen intensiviert. Die Söhne Peter und Rolf stehen gegeneinander bis zu Tätlichkeiten. Peter muß ins Krankenhaus, der Vater verstößt den Sohn Rolf, der am Ende von der Volkspolizei verhaftet wird. Auf diese Weise werden die "Provokationen des 17. Juni" gemeinsam von den "guten" Arbeitern aus Ost und West beendet und auch Eva wird sich wohl nun mit Peter zusammentun.
Inge von Wangenheim: Am Morgen ist der Tag ein Kind. Roman eines Tages, Berlin 1957
Der erzählte Tag ist der 16. Juni 1953, der eine Schar von Menschen auf einer gemeinsamen Dampferfahrt zusammen und in Konflikte bringt. Stattfindet der Betriebausflug eines Theaterensembles. Das Fahrgastschiff ist privat, die Tochter Hanne befindet sich im Liebeskonflikt mit dem FDJler Friede. Der politische Konflikt von Altem (Bürgerlichen) und Neuem (Sozialistischen) erscheint hier vor allem als Liebeskonflikt, als Tochter eines privaten Gewerbetreibenden sieht sie in den verkündeten höheren Steuern eine Existenzgefährdung. Die sozialistischen Überzeugungen des FDJlers Friede erschließen sich ihr nur langsam.
Zwischen ihrem Vater und Geliebten hin und hergerissen, dominiert zunächst die Leidenschaft gegenüber der Überzeugung. Der Grenzverkehr an diesem Tag verläuft unruhig und manches "Gesindel" treibt sich an den Kontrollpunkten herum. Innerhalb des Theaterensembles polarisieren sich die Meinungen zum "neuen Kurs". Der sich für Partei und Regierung aussprechende Teil der Theaterleute begibt sich in geschlossener Formation zum Alex, wo sie einigen Randalierern eine Abfuhr erteilen. "Schweißtriefende Burschen in verdreckten Hemden sprangen im Laufschritt auf die Sättel, traten in die Pedale, beugten sich tief über die geschwungenen Lenkstangen und rasten in einer langhinschweifenden glitzernden Folge über den Platz hinweg der Rathausstraße zu. Es war, als ob ein gliederklappernder, silberschuppriger Giftdrache die Flucht ergriffe, Pech und Schwefel hinter sich lassend, zum Gestank für die Nachwelt." Freudig werden die sowjetischen Panzer begrüßt und auch das Liebespaar findet sich "überzeugt" zusammen.
Gerhard Zwerenz: Die Liebe der toten Männer, Köln 1959
Diesen Roman hat Zwerenz unmittelbar nach seiner Flucht in den Westen geschrieben. Er versieht ihn mit dem Motto: "dies buch ist gewidmet meinen freunden erich loest und günter zehm und allen anderen in ulbrichts kerkern".
Erzählt wird die Geschichte zweier Kommunisten und Parteifunktionäre, dem Bürgermeister Martin Striem und dem Parteisekretär Johannes Ball. Sie spielt in den Junitagen 1953. Der karrieristische SED-Bezirkssekretär Erkel schickt Striem aufgrund einer Intrige ins Gefängnis, wo dieser die Befreiung durch die Aufständischen erlebt. In deren Verlauf erschießt Striem den Gefängnisdirektor, den Spanienkämpfer Sagrin, der ihm ein Waffe anvertraut hatte. Mit Bezug auf die stalinistischen Säuberungen heißt es: "Der Mensch muß tot sein, wenn er der Partei nützen soll!"
Striem hat eine Liebesbeziehung zu der Nachrichtensprecherin Egid Bitter, die im Rundfunk nicht mehr die lügenhaften Nachrichten verlesen kann. Die Russen werden am 17. Juni ausgesprochen sympathisch gezeigt, als Böse erscheinen die deutschen Genossen, die lernunfähig sind und stalinistisch bleiben.
In einem Seitenstrang erfahren wir die Geschichte des Dichters Kaltofen und seiner Frau Tilde, die aus dem sowjetischen Exil kommen und psychisch völlig zerstört sind. So kann Kaltofen nur noch dichten, wenn er seine Frau nackt an Armen und Beinen fesselt. Dies ist als Parodie auf den Dichter und Kulturminister Johannes R. Becher unschwer zu erkennen.
Dieser kolportagehafte Roman, der stilistisch uneinheitlich, aber sprachlich und metaphorisch in Teilen originell ist, hat in der grellen Zeichnung der Parteifunktionäre im Kalten Krieg seine Rolle spielen können.
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> Einleitung
> 50iger Jahre
> 60iger Jahre
> 70/80iger Jahre
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