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TEIL II: Die sechziger Jahre

Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim, Frankfurt a. M. 1961

Nachdem Uwe Johnson, der kongeniale Erzähler der beiden Deutschland, im Juli 1959 nach Westberlin übergesiedelt war, erschien mit "Das dritte Buch über Achim" (nach "Mutmaßungen über Jakob", Frankfurt a.M: 1959) sein erstes außerhalb der DDR geschriebenes Buch. Erzählt wird eine Dreiecksgeschichte zwischen dem Hamburger Journalisten Karsch, seiner ehemaligen und Achims jetziger Freundin, der Schauspielerin Karin und dem Rennfahrer und staatlichen Idol Achim. Von Karin in die "sächsische Stadt" um 1960 eingeladen, nimmt Karsch das ihm unverhofft gemachte Angebot an, ein Buch über den Werdegang Achims zum umjubelten Sport-Idol für einen ostdeutschen Verlag zu schreiben. Seine Auftraggeber versprechen sich davon, nach den bereits vorliegenden zwei Büchern über Achim, die nicht die "ganze Person" erfaßten, eine "runde Darstellung", die überzeugend den Aufstieg Achims als Folge der staatlichen Förderung entwickelt und die ihm entgegengebrachte Massenbegeisterung auf seine sportliche Leistungen, seine sympathisch bescheidene Persönlichkeit als made in GDR präsentiert.

In den rückblickenden Recherchen findet Karsch den durchaus dornigen Weg des Arbeiterjungen Achim zu seinem heutigen Platz an der Spitze des internationalen Radrennsports, Sportstudenten und Mitglied der Volkskammer, der bei Manifestationen neben den "Sachwaltern" von Staat und Regierung auf der Tribüne seinen Platz einzunehmen hatte. Beobachtet und überwacht von den Sicherheitsorganen begleitet Karsch den Rennfahrer Achim zu verschiedenen Veranstaltungen, während Karins Beziehung zu Achim sich immer mehr als in einer Krise befindlich herausstellt, deren Ursachen aber offen bleiben. Auf geheimnisvolle Weise verschwinden Karschs bereits geschriebene Seiten ebenso wie sie sich dann wieder anfinden, bis ihn eines Tages eine Briefsendung von anonym erreicht. In ihr befindet sich ein Foto, auf dem man Achim inmitten von streikenden Bauarbeitern seiner alten Maurer-Brigade sieht. Diese "dunkle" Stelle in seiner Biographie, von der auch Karin nichts wußte ("Den Aufstand durfte er mir nicht sagen, weil er verstanden hatte, daß wir alle die Zeit danach rechnen."), erweist sich nun als deren Schlüsselerlebnis und sein Verschweigen demontiert die ganze offizielle und umjubelte Biographie.

Eindringlich folgt die Schilderung des örtlichen Bauarbeiter-Aufstands, bei dem es um mehr als um die paar Pfennige der Normenerhöhung gegangen war. "An der Marktecke zertrümmerten sie den Holzbau, der mit Filmen und Lautsprechern und Schrifttafeln ihnen die Rechtmäßigkeit ihres Zustands hatte einprägen wollen. Sie holten auf Leitern stehend die Buchstaben von den staatlichen Kaufhäusern, sie hatten offenbar niemals geglaubt, daß die ihnen gehörten. Das alles waren Zeichen für die Worte Demokratie, Freie Wahlen, Wiedervereinigung, die erstaunlich sauber geschrieben auf Tafeln hochgereckt wurden, die das erregte Geschrei der Redner auf den Holzbuden am Markt verständlich machten. Aber sie waren nicht verabredet. Sie verbrüderten sich: sie waren ausgelassen wie auf einem Jahrmarkt. Sie wußten, was sie nicht wollten, aber nicht was. Sie warteten einer auf den andern was der tun würde. Sie waren auf den Tag nicht vorbereitet, da er unmöglich geschienen hatte."

Was folgte, waren Panzer, Verhaftungen, Hinrichtungen. Im Gespräch zwischen Karsch und Achim bleibt offen, ob die Person auf dem Foto tatsächlich Achim ist. Das Buchprojekt jedoch ist schon an dieser biographischen Möglichkeit gescheitert. Karsch kehrt nach Hamburg zurück, während Karin sich von Achim wegen des Vertrauensverlustes trennt.

Die mehrdimensionale Erzählperspektive und ein durchgängiger Frage-Gestus ermöglichen es Uwe Johnson, die Demontage seines sozialistischen Helden als dessen aufschlußreiche Individualisierung zu beschreiben und die Ereignisse des 17. Juni von der Warte der "Unterschiede, der Grenze, der Entfernung zwischen den Daseinsmöglichkeiten in den beiden deutschen Staaten" (Uwe Johnson, 1977) zu beleuchten.

Ingeborg Drewitz: Das Karussell, Göttingen 1962

In dem Entwicklungsroman zweier Klassenkameraden des Jahrgangs 1922 nimmt die suggestive Schilderung der Ereignisse um den 17. Juni in Berlin einen die Handlung abschließenden Platz ein, schließt die Nachkriegsschicksale der Protagonisten zeitweilig ab.

Die beiden jugendlichen Helden, Angehörige der Borchert-Generation, hatten Nationalsozialismus und Krieg ablehnend gegenübergestanden und suchen nun in Kunst und Wissenschaft ihren Lebenssinn. Zusammen mit ihrem antifaschistischen Professor, einem Buchenwald-Überlebenden, führen sie ihr selbst verfaßtes Stück "Vergeßt nicht" auf.

Konfrontiert mit stalinistischen Eingriffen der sowjetischen Besatzungsmacht in universitärem Lehrbetrieb und Berliner Alltag, kommen ihnen zunehmend Zweifel an der demokratischen Entwicklung, die sie auch öffentlich machen. Terroristische Maßnahmen, Überwachung und Denunziation, Anpassung und Schweigen erleben sie als Wiederholung der Zustände im Dritten Reich. In der Folge wird der eine von ihnen verhaftet und zu 25 Jahren verurteilt. Der Professor, der anfänglich versucht hat, über solche Vorfälle hinwegzusehen, flüchtet in der Folge des 17. Juni nach Westberlin.

Die Massenproteste und Streiks erleben die Protagonisten als berechtigtes Aufbegehren gegen diktatorische Verhältnisse, an der Universität werden Geistesfreiheit und Demokratie in enge, vorgeschriebene Bahnen gezwängt. Panzereinsatz gegen friedliche Demonstranten anstelle öffentlicher Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche Probleme und Ursachen des Unzufriedenseins breiter Bevölkerungsschichten wird abgelehnt. Der jugendliche Protagonist entscheidet sich für Zivilcourage und nimmt den Kampf mit dem "Karussell des Lebens" auf.

Fritz Selbmann: Die Söhne der Wölfe, Halle 1965.

Dieses Buch des langjährigen "Kumpels und Ministers", der sich seit seiner Kaltstellung durch Ulbricht wegen "Managertums" Ende der 50er Jahre literarisch betätigte, kommt als Typ verspäteter Betriebsroman daher. Was ihn jedoch auszeichnet, ist die Wahl einer negativen Haupt-Figur, eine in der Geschichte der DDR-Literatur seltene und umstrittene Ausnahme.

Geschildert werden die Ereignisse und Handlungen in einem Berliner Großbetrieb (Elektro-technische Werke , unschwer ist das Kabelwerk Oberspree zu erkennen) in den Monaten vor und nach dem Mauerbau 1961. Der Betriebsleiter Heinz Lorenzen befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Phase moralischer Verkommenheit. Aus seiner Biographie erfahren wir, dass er als junger Mann von 17 Jahren wegen seiner Kritik am NS ins KZ gekommen war und dort die Erziehung der politischen Häftlinge genossen hatte. Seit Kriegsende in verschiedenen Bereichen dem antifaschistischen Aufbau tätig, war es ihm gelungen, sich durch Fleiß und bedingungsloses sozialistisches Engagement vom Elektromonteur zum Ingenieur zu qualifizieren. Als knapp Mitte Zwanzigjähriger war er zum Leiter eines der größten Industriebetriebe Ost-Berlins ernannt worden. Sein entschiedenes Verhalten im Betrieb am 17. Juni 1953, als er die betriebsfremden "Randalierer" rausschmiss und gleichzeitig die Arbeiter zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit brachte, hatte sein Ansehen bei Partei und Staat noch gesteigert. Seine Härte im Umgang mit Menschen, seine Anfälligkeit gegenüber den materiellen Verlockungen West-Berlins und des kapitalistischen Auslands, (motiviert vor allem aus seiner "bürgerlich, sozialdemokratischen" Herkunft) sein zunehmender Karrierismus sowie sein rücksichtsloses Verhalten in der Familie bewirkten sein Versagen (er wird wegen Planmanipulationen verhaftet) als Leiter in den dramatischen Tagen vor und nach dem 13. August 1961.

Die Darstellung der Ereignisse um den 17. Juni 1953 erfolgt vor allem aus der Perspektive des Betriebsleiters, der einen "faschistischen Putsch" sich ereignen sieht. Inszeniert von "Typen, wie sie früher in der Hitlerjugend waren und später in der SS und im Gestapokeller. Heute nennen sie sich 'Junge Union' oder so."

Die brisante Szenenbeschreibung existiert in zwei Fassungen, deren Vergleich aufschlußreich ist. In seinen "Gesammelten Werken in Einzelausgaben" lässt Selbmann 1974 erstmalig die "erste, ursprüngliche Fassung" abdrucken. Sie enthält (aus der Perspektive Heinz Lorenzens) eine ausführliche Schilderung des Auftritts des Industrieministers vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Durch zwei aus dem Westen bestellte Redner, die die Menge aufhetzen, kommt es zum Steinehagel auf den Minister (den es so nicht gab), mit dessen Abgang sich auch die Menschenansammlung zerstreut. Im Roman von 1965 fehlt diese ganze Passage mit dem Minister. Hier wird zwar auch aus der Perspektive Heinz Lorenzens berichtet: von der Menschenansammlung und den Tätlichkeiten gegenüber den das Parteiabzeichen Tragenden, aber von dem Auftritt des Ministers keine Spur. Nun war diese Szene (ohne Steinehagel) historisch verbürgt, denn Selbmann war ja selbst dieser Minister gewesen. Offensichtlich jedoch brachte die Zensur-Behörde ihn davon ab, dies auch so zu veröffentlichen. An sein couragiertes, aber wohl nicht mit der Parteiführung abgestimmtes Auftreten wollte man in der Ulbricht-Zeit offiziellerseits wohl nicht erinnert werden. In den von seinem Sohn, dem Fernsehjournalisten Erich Selbmann, zum 100. Geburtstag herausgebrachten autobiographischen "Bildern aus den Gründerjahren der DDR" (Acht Jahre und ein Tag, Verlag Neues Leben Berlin 1999), geschrieben Anfang der 70er Jahre, hält der Verfasser an seiner Einschätzung vom "profaschistischen Putsch" fest, räumt aber auch ein, daß unter den Massen Unzufriedenheit geherrscht habe und die Partei vielerorts über die wirkliche Stimmung falsch unterrichtet gewesen sei. Neben der Schilderung seines Auftritts in der Leipziger Straße ist hier auch zu erfahren, daß Selbmann vier Wochen nach dem 17. Juni in den Buna-Werken in Schkopau ebenfalls zu rebellierenden Arbeitern gesprochen hatte.

Günter Grass: Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel, Neuwied/Berlin 1966

Diese "deutsche Trauerspiel", den "Tempelwächtern beider Staaten ärgerlich" (Grass, 1999) ist ein Thesenstück über den Zusammenhang von Kunst und Wirklichkeit, von Geschichte und Gegenwart, über die gesellschaftliche Funktion und politische Rolle von Künstlern/Intellektuellen in historisch brisanten Ereignissen. Während der Theater-Proben zu Shakespeares "Coriolan" kommt eine Delegation der streikenden Bauarbeiter, um den "Chef" als "großen Mann, der einen Namen hat" zu bitten, ihnen ein Schreiben mit ihren Forderungen an die Regierung zu verfassen. Der "Chef", in Habitus und Verhalten unschwer als Brecht zu erkennen, zögert und läßt sich zunächst über den Hergang der Streikbewegung und den Verlauf der Demonstrationen informieren. Dabei werden die aktuellen Ereignisse des 17. Juni zu denen des Plebejeraufstandes im Stück "Coriolan" in vergleichende Beziehung gesetzt. Theatergeschehen und aktuelle historische Vorgänge verflechten sich, wenn die Anlässe der Unzufriedenheit der antiken Plebejer (der unerschwingliche Kornpreis) mit denen der Arbeiter (die Normenproblematik) im Zusammenhang diskutiert werden. Der "Chef", der nicht daran denkt, die Probenarbeit zu unterbrechen, wird als einer präsentiert, dem Ästhetik vor Politik zu gehen scheint. Statt des Textes für die Bauarbeiter, die ihrer Enttäuschung lautstark Ausdruck verleihen, bringt er schließlich einen diplomatischen Brief an Ulbricht zustande, von dem nur der letzte Absatz mit seiner Loyalitätserklärung gegenüber der SED abgedruckt wird. Als der Aufstand durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht beendet wird, zieht sich der "Chef" mit seinem Arbeitskollektiv aufs Land zurück. Angesichts der soeben gescheiterten "deutschen verregneten Arbeiterrevolution" bleibt die Frage, wie überhaupt Revolutionen zu machen seien offen.

Das schwierig zu inszenierende Diskutier-Stück, das nach des Autors Absicht nicht den 17. Juni dramatisieren wollte, war in der DDR als antikommunistisches Stück verpönt. In der BRD widersprach es der heroischen Legende vom "Volksaufstand". In seiner nach Jahren strukturierten autobiographischen Rückschau "Mein Jahrhundert" (Göttingen 1999) gibt Grass für das Jahr 1953 die folgende Eintragung:

"Wir nahmen die S-Bahn bis zum Lehrter Bahnhof. Dessen Stahlskelett stand immer noch. Vorbei an der Reichstagsruine, dem Brandenburger Tor, auf dessen Dach die rote Fahne fehlte. Erst am Potsdamer Platz sahen wir von der Westseite der Sektorengrenze aus, was geschehen war und im Augenblick oder seitdem der Regen nachgelassen hatte, geschah. Das Columbushaus und das Haus Vaterland qualmten. Ein Kiosk stand in Flammen. Verkohlte Propaganda, die der Wind mit dem Qualm aufgetrieben hatte , schneite in Flocken schwarz vom Himmel. Und Menschenaufläufe sahen wir, hin und her ohne Ziel. Keine Vopos. Aber, eingeklemmt in die Menge, sowjetische Panzer, T 34, den Typ kannte ich.

Warnend stand auf einem Schild: "Achtung! Sie Verlassen den amerikanischen Sektor" Einige Halbwüchsige wagten sich mit und ohne Fahrrad dennoch rüber. Wir blieben im Westen. Ich weiß nicht, ob Anna anderes oder mehr gesehen hat als ich. Beide sahen wir die Kindergesichter russischer Infanteristen, die sich entlang der Grenze eingruben. Und weiter weg sahen wir Steinewerfer: Überall lagen Steine genug. Mit Steinen gegen Panzer. Ich hätte die Wurfhaltung skizzieren, stehend ein Gedicht, kurz oder lang, über das Steinewerfen schreiben können, machte aber keinen Strich, schrieb kein Wort, doch die Gestik des Steinewerfens blieb haften.

Erst zehn Jahre später, als Anna und ich einander von Kindern bedrängt als Eltern erlebten und wir den Potsdamer Platz als Niemandsland und nur noch vermauert sahen, schrieb ich ein Theaterstück(...)Es ging in vier Akten um die Macht und die Ohnmacht, um geplante und spontane Revolution, um die Frage, ab Shakespeare sich ändern lasse, um Normerhöhungen und einen zerfetzten roten Lappen, um Worte und Panzer und Steinewerfer, um Hochmütige und Kleinmütige, um Panzer und Steinwerfer, um einen verregneten Arbeiteraufstand, der kaum war er niedergeschlagen, auf den 17. Juni datiert, zur Volkserhebung verfälscht und zum Feiertag verklärt wurde, wobei es im Westen bei jeder Abfeier mehr und mehr Verkehrstote gab.

Die Toten im Osten jedoch waren erschossen, gelyncht, hingerichtet worden. Außerdem wurden Freiheitsstrafen verhängt. Das Zuchthaus Bautzen war überbelegt. Das alles kam erst später ans Licht. Anna und ich haben nur ohnmächtige Steinewerfer gesehen. Vom Westsektor aus hielten wir Distanz. Wir liebten uns und die Kunst sehr und waren keine Arbeiter, die Steine in Richtung Panzer warfen. Doch seitdem wissen wir, daß dieser Kampf immer wieder stattfindet. Manchmal, doch dann um Jahrzehnte verspätet, siegen sogar die Steinewerfer!" (S. 189-191)

Anna Seghers: Das Vertrauen, Berlin 1968

In diesem groß angelegten Gesellschaftsroman, dessen Haupthandlungsstrang die Schicksale einer Reihe von Menschen im (fiktiven) Kossiner Stahlwerk im Jahre 1953 erzählt, stellt Anna Seghers die Ursachen, die zu den Arbeiterunruhen im Juni 1953 führten, ins Zentrum ihrer Darstellung. In dem sie ausführlich die Auseinandersetzungen um die neuen Normen schildert, den Gegen-Argumenten breiten Raum einräumt, erscheint die Belegschaft, von den Stahlkochern bis zur Pförtnerin, in beachtlicher Differenziertheit. Aus den materiellen Nöten ihres "gewöhnliches Lebens", ihrer Unzufriedenheit mit dem zu erwartenden geringeren Verdienst, aus ihrem Verdruß an der politisch-ideologischen Propaganda erwächst die Gruppierung der Streikwilligen, denen die staatlichen Leiter, die Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre mit einigen Brigadieren und Arbeitern gegenüberstehen. Während es in der Stadt zu tätlichen Auseinandersetzungen kommt, kann im Betrieb ein genereller Arbeitsstillstand an den Stahlöfen, in den Rohr-Hallen und in den Werkstätten auch ohne sowjetisches Eingreifen verhindert werden.

Die Beeinflussung durch Westberliner Anweisungen und "geheime" Ratschläge gibt es bei Seghers ebenso wie die Arbeitskräfteabwerbungen durch den ehemaligen Besitzer des Werkes in Westdeutschland, und dies trägt bei den sich mit dem Werk identifizierenden Arbeitern zum Eindruck von einer "Gegenrevolution" bei. Auf das Konto dieser Fremdeinwirkungen gehen in erster Linie die brutalen Ausschreitungen, deren Opfer neben einem Angehörigen des Betriebsschutzes vor allem die allseits beliebte, vitale und klassenbewußte Arbeiterin Ella Busch wird. Eine proletarische Märtyrerin, wobei deren Schwangerschaft ihrem tragischen Tod noch besonderer Nachdruck verleiht. Ihr Mann gehört zu den Schlägern, was zeigt, wie die Ereignisse polarisieren und ungewollt auch Privates-Familiäres zerstören können.

Mit dem stark ethisch-moralisch akzentuierten Titel hat Anna Seghers ihren konzeptionellen Leitfaden vorgegeben: nur mit (mehr) Vertrauen kann ihrer Meinung nach der sozialistische Aufbau gelingen. Die Parteifunktionäre müssen, statt Anweisungen zu erteilen, die Menschen überzeugen. Mißtrauen am falschem Platz kann zerstörerisch sein. In diesem Zusammenhang werden die stalinistischen Prozesse der 50er Jahre, die sog. Ärzteverschwörung und Stalins Tod in den erregten Gesprächen der Protagonisten diskutiert. Dabei überwiegen durchaus die Zweifel und es fehlt erkennbar nicht nur den Figuren, sondern auch der Autorin an überzeugenden Erklärungsangeboten. Während der Betriebsleiter Ulsperger, der selbst repressiert wurde, "in jener Zeit, in der Vertrauen einem Leben einblasen konnte und Mißtrauen ein Leben zerstören", für Schweigen darüber plädiert, wollen sich die Jüngeren wie die jugendliche Zentral-Figur Wolfgang Helger nicht mehr damit abspeisen lassen. Fragen vom Typ "Wie kam es, daß die Strengen, Unversöhnlichen so viel Macht besaßen?" bleiben auf bedrückende Weise unbeantwortet.

In der Rezeption des Romans, strikt ablehnend in der BRD, hochlobend in der DDR, wurde seinerzeit übersehen, dass die Autorin aufschlußreiche vergleichende Akzente zum Totalitären gesetzt hatte. Mit der Figur der Lina Sachse, erst BDM-Führerin, dann FDJ-Sekretärin ("Streng bei der Sache. Früher im dritten Reich, jetzt beim sozialistischen Aufbau.") stellt Seghers die Problematik der totalitären Verführung durch Ideologie in den Raum. Wenn der Lehrer Waldstein, Spanienkämpfer und Widerständler, im Zusammenhang der stalinistischen Ärzteprozesse argumentiert: "Wer jemand beschuldigt, der redet sich meistens ein, an die Schuld zu glauben, die er erfindet. Im Schuldfinden, Denunzieren liegt auch was Faschistisches. Es war in Blüte in der Nazizeit", scheint ein streng tabuisierter Vergleich auf.

Es ist nicht verwunderlich, daß in der DDR-Rezeption diese Aspekte des Romans, die jedoch seine Ambivalenz ausmachen, völlig übergangen wurden.

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