15. Juni 1953 (Montag)
Am ersten Arbeitstag der neuen Woche geht der sonntägliche "Holzhammer"-Artikel im "Neuen Deutschland" bei den Bauarbeitern der Stalinallee von Hand zu Hand. Er wirkt, wie sich Heinz Brandt später erinnert, praktisch "als 'kollektiver Organisator' der beginnenden Bauarbeiteraktion."
Der "Tagesbericht Nr. VII" des SED-Zentralkomitees verzeichnet weiterhin geteilte Reaktionen auf das Kommuniqué des Politbüros vom 9. Juni. Die SED-Anhängerschaft ist vor allem wegen der Ankündigung verunsichert, rückkehrwilligen "Republikflüchtigen" ihr Eigentum zurückzugeben; auch der neue Kurs gegenüber der Kirche und der Jungen Gemeinde wirkt irritierend. Gleichzeitig verbreite sich in vielen Betrieben das Gerücht, heisst es in dem Bericht, dass die Normenerhöhung rückgängig gemacht würde, da sie ebenfalls auf Fehler der Partei und der Regierung zurückzuführen sei.
SED-ZK, Tagesbericht Nr. VII, 15.6.1953, 24.00 Uhr.
Auf den Baustellen in Friedrichshain und auf der Stalinallee in Ostberlin legen große Teile der Arbeiterschaft am Morgen - wie am 13. Juni 1953 auf der Dampferfahrt vereinbart - die Arbeit nieder. Es wird zum Streik aufgerufen und die Rücknahme der sogenannten "freiwilligen", zehnprozentigen Normerhöhung gefordert. Im Verlauf des Tages schließen sich weitere Betriebe und Baustellen in Ostberlin dem Streik an. Die Arbeiter der Stalinallee und die von der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain verfassen jeweils eine Resolution und wollen diese dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl überbringen. Beide Resolutionen werden jedoch zunächst nicht auf den Weg gebracht, da von Seiten der FDGB-Zentrale eine Erklärung zur Senkung der Normen erwartet wird. Die FDGB-Zentrale schweigt sich jedoch aus. Kurz vor Feierabend schicken die Arbeiter der Baustelle Friedrichshain schließlich eine Delegation zu Ministerpräsident Grotewohl. Die Resolution wird von Mitarbeitern des Sekretariats des Ministerpräsidenten entgegengenommen, die später über ihr Gespräch mit den Arbeitern einen Bericht anfertigen.
Die Arbeiter fordern, dass der Ministerpräsident bis zum Mittag des 16.6.1953 eine Klärung der Normenfrage herbeiführt. Der im ND-Artikel vom Sonntag kritisierte Bruno Baum ist zu diesem Zeitpunkt bei Otto Grotewohl. Er vertritt die Position, dass der Ministerpräsident gegenüber den Forderungen der Arbeiter hart bleiben soll.
Resolution des VEB-Industriebauten der Baustelle "Bettenhaus-Friedrichshain", 15.6.1953
Bericht über die Delegation der Bauarbeiter am 15.6.1953
Im Rundfunk bezieht der Oberbürgermeister von Ostberlin, Friedrich Ebert, Position zu den begangenen Fehlern und dem Kurswechsel. Ebert erklärt: Wir werden nicht nur einige Fehler korrigieren, sondern eine grundlegende Änderung unserer Politik herbeiführen. Richtig ist nur eins! Die SED kann nicht mit einer Lüge vor das Volk hintreten! Insgesamt wird im ganzen Land erwartet, dass als nächstes die Normerhöhung rückgängig gemacht wird.
Rede von Friedrich Ebert über Fehler und Kurswechsel der SED, 15.6.1953 (DDR-Rundfunk)
Der RIAS verbreitet um 19.30 Uhr: "In Ostberlin kam es heute auf drei Baustellen des volkseigenen Betriebes "Industriebau" zu Proteststreiks gegen die von der Regierung angeordneten Normenerhöhungen um 10%.
Auf der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain wurde um 9.00 h die Arbeit niedergelegt, während die Arbeiter auf den Baustellen Stalinallee Block 40 und Volkspolizeiinspektion Friedrichshain ab 14.00 und 15.00 h in den Ausstand traten. In Protestresolutionen an die Zonenregierung wurde die Zurückziehung der Anordnung über die Erhöhung der Normen gefordert."
Die Meldung wird um 22.00 Uhr, 0.00 Uhr und um 6.30 Uhr wiederholt.
Seit dem 1. Juni unterhält das Bonner Auswärtige Amt eine kleine Dienststelle in Westberlin. Deren Leiter, der Vortragende Legationsrat Erich Meynen, kabelt seine Bewertung der "neuen russischen Politik in der Sowjetzone" nach Bonn. Alle Sowjetexperten seien sich darüber einig, meint Meynen, "daß von einer grundsätzlichen Änderung der internationalen Politik Moskaus in ihrer endgültigen Zielsetzung unter keinen Umständen gesprochen werden kann. Lediglich die Methoden wechseln von Zeit zu Zeit, und wir stehen wieder einmal am Anfang einer neuen Periode und einer neuen Methode."
Durch seine neuen Töne könne Moskau allerdings schon jetzt den Erfolg für sich verbuchen, "dass in viele Köpfe der westlichen Welt, einschliesslich der Wähler in der Bundesrepublik, der Zweifel gesetzt worden ist, ob nicht doch eine Verständigung mit dem Osten im Sinne der Wiedervereinigung Deutschlands und der Erhaltung des Friedens jetzt schon möglich sei."
Erich Meynen, Betr.: Neue russische Politik in der Sowjetzone, 15.6.1953
|
|
|