30. Juni 1953 (Dienstag)
In Bonn kommt das Bundeskabinett von 9.30 bis 14.00 Uhr zusammen. Die Lage in Ostdeutschland nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 steht als zweiter Punkt auf der Tagesordnung. Es wird der Vorschlag des SPD-Abgeordneten Herbert Wehner diskutiert, "den Ostberlinern die Möglichkeit zu geben, Ostmark im Verhältnis 1:1 gegen Westmark einzutauschen und dafür Lebensmittel einkaufen zu können." Die monatlichen Kosten werden mit ca. fünf Millionen DM pro Monat aber als zu hoch eingeschätzt und der Plan insgesamt als nicht durchführbar abgelehnt.
Die Bundesregierung stimmt zu, dass der DDR im Rahmen des Interzonenhandels Lebensmittel in Wert von rund 20 Millionen DM geliefert werden. Im Kabinettsprotokoll heißt es: "Dem von Vertretern der Sowjetzone geäußerten Wunsch, mit dort angesammelten DM-West Beträgen in der Bundesrepublik Genussmittel (Kaffee, Kakao, usw.) einzukaufen, soll entsprochen werden."
Darüber hinaus kündigt der Bundeskanzler eine großzügige Hilfe für die DDR-Bevölkerung durch die Versendung von Lebensmittelpaketen an. Er bittet alle Kabinettsmitglieder um Unterstützung bei der Umsetzung dieses Vorhabens.
In Ostberlin nimmt Walter Ulbricht die Glückwünsche zu seinem 60. Geburtstag entgegen. In einer Glückwunschadresse des SED-Zentralkomitees heisst es: "Dein Leben und Wirken ist erfüllt vom rastlosen Kampf für die Befreiung der Ausgebeuteten vom Joche des Kapitalismus. Du hast Dir als Sohn der Arbeiterklasse die Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin meisterhaft angeeignet und sie in allen Deinen verantwortlichen Funktionen zum Wohle der deutschen Arbeiter und der werktätigen Bauern angewandt."
DDR-Justizminister Max Fechner erklärt in einem Interview im "Neuen Deutschland": "Alle Inhaftierten kommen vor ein ordentliches Gericht. (...) Es werden also nur diejenigen der Bestrafung zugeführt, die Brände anlegten, die raubten, mordeten oder andere gefährliche Verbrechen begangen haben. Es wird also nicht gegenüber denen, die gestreikt oder demonstriert haben, eine Rachepolitik betrieben."
Zwei Tage später erscheint eine Berichtigung im Neuen Deutschland. Mit dem Hinweis auf einen "technischen Fehler" wird darauf aufmerksam gemacht, dass beim Interview mit dem Justizminister einige Sätze ausgelassen wurden. Folgende Sätze werden am 2. Juli unter anderem ergänzt: "Das Streikrecht ist verfassungsmäßig garantiert. Die Angehörigen der Streikleitung werden für ihre Tätigkeit als Mitglieder der Streikleitung nicht bestraft. Dabei weise ich noch auf folgendes hin: Selbst Rädelsführer dürfen nicht auf bloßen Verdacht oder schweren Verdacht hin bestraft werden."
Interview mit Max Fechner: "Alle Inhaftierten kommen vor ein ordentliches Gericht", Neues Deutschland, 30.6.1953
ZK-Aktennotiz zur Frage des Interviews des Justizministers Max Fechner im "Neuen Deutschland", 30.6.1953
Im DDR-Ministerrat liegt ein erster Bericht über die Durchführung der Beschlüsse des Ministerrates vom 25.6.1953 in den Bezirken der DDR vor. Daraus geht hervor, dass die meisten Abgeordneten in den Bezirken noch unzureichend mit diesen Beschlüssen vertraut sind. Immerhin wird jedoch berichtet, "daß die Zahlung der erhöhten Renten und Sozialfürsorgeunterstützungsbeiträge ab dem 1.7. überall gewährleistet ist". Der Prozess der Rückgabe von Einzelhandelsgeschäften an die früheren Besitzer sei ebenso im Gange wie die Rückgabe landwirtschaftlicher Betriebe. Die Auflösung von LPG hält sich offenbar - wie am Beispiel des Bezirkes Potsdam aufgezeigt wird - in Grenzen, allerdings gibt es dort eine Reihe von Austritten von "Grossbauern".
1. Bericht über die Durchführung der Beschlüsse des Ministerrates vom 25.6.1953 in den Bezirken, 30.6.1953
|
|
|
Der amerikanische Hohe Kommissar James B. Conant hebt auf einer Pressekonferenz besonders die verschärfte Sowjetisierung und die damit einhergehende Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Ostzone als Ursache für den Volksaufstand hervor.
Pressekonferenz des amerikanischen Hohen Kommissars James B. Conant über die Ursachen des Volksaufstandes (RIAS), 30.6.1953
Immer wieder fallen an der Berliner Sektorengrenze Schüsse, so auch an diesem Tag. Die Westberliner Polizei berichtet: "Am 30.6.1953, gegen 17.05 Uhr, wurde in Berlin N auf eine unbekannt gebliebene, etwa 30 Jahre alte weibliche Person beim Überschreiten der Sektorgrenze von Ost nach West an der Bernauer/Ecke Schwedter Straße durch einen sowjetischen Soldaten geschossen. Etwa 5 Meter auf westsektoralem Gebiet wurde die weibliche Person von 2 sowjetischen Soldaten wiederergriffen, in den Sowjetsektor geschleppt und der VOPO übergeben."
Ab den frühen Morgenstunden des 1. Juli dürfen Westberliner, die im Ostsektor arbeiten, neben den Übergängen Brunnenstraße, Invalidenstraße und Prinzenstraße jetzt auch wieder den Übergang Bornholmer Brücke (Boesebrücke) mit Passierschein überschreiten.
Pressestimmen West:
Die "Neue Zeitung" aus Berlin kommt unter der Überschrift "Nicht vergessen" zu dem Schluß: "Es gibt nur einen Weg, um der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone wirksam und auf die Dauer zu helfen: Das ist die völlige Beseitigung der Zonengrenze an der Elbe und die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit. Die Bundesregierung hat zunächst den von Ostberlin und der Zone ausgegangenen Ruf nach einem freien wiedervereinigten Deutschland aufgenommen und die Regierungschefs der Westmächte haben ihren Willen bekundet, für die Herstellung der deutschen Einheit einzutreten. Die drei westalliierten Hochkommissare betonten in ihrer Berliner Sitzung am Wochenende erneut die Dringlichkeit der deutschen Forderungen. In der Zwischenzeit bis zur Realisierung der deutschen Wiedervereinigung gibt es vielerlei Aufgaben: Hilfe für die Flüchtlinge, Unterstützung für die Hinterbliebenen der Opfer des 17. Juni und Wahrnehmung der Beeinflussungsmöglichkeiten, die sich aus der Macht der Weltmeinung sowie aus den Rechtsgrundlagen der Verträge ergeben."
Pressestimmen Ost:
Das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" kommt zu der Erkenntnis, daß "die deutsch-sowjetische Freundschaft wächst und erstarkt": "Heute erkennt auch der überwiegende Teil der am 17. Juni irregeführten Arbeiter, daß die sowjetische Streitkräfte in Deutschland in den Tagen des 17. Juni dem deutschen Volk eine unschätzbare Freundschaftstat erwiesen haben, indem sie den Frieden retteten und an diesem tage verhinderten, daß Deutschland entsprechend den Plänen der amerikanischen und deutschen Aggressoren zum Kriegsschauplatz eines neuen Weltkrieges wurde. [...] So ist der hinterhältige Versuch, zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Volke Feindschaft zu säen, in sein Gegenteil umgeschlagen. Es läßt sich schon heute klar erkennen, daß sich die Freundschaft zwischen dem sowjetischen und dem deutschen Volk durch die Juni-Ereignisse vertieft und gefestigt hat. In dem Maße, wie der künstlich erzeugte Nebel des 17. Juni weicht, wird allen Deutschen gerade im Lichte der Juni-Ereignisse die überragende Bedeutung der Freundschaft zwischen dem deutschen und sowjetischen Volke, die friedenssichernde und friedenstiftende Rolle der Sowjetunion klarer als bisher."
Mit "Die Katze aus dem Sack" ist der Kommentar der "BZ am Abend" betitelt: "So kommt die Katze aus dem Sack. Reuter und Adenauer entlarven sich und ihre Provokation gegen den Frieden, indem sie den Putschversuch vom 17. Juni unverhüllt als Auftakt zu Gewaltaktionen gegen Polen und die Tschechoslowakei darstellen. Jeder einfache Mensch versteht, daß dies Krieg bedeutet, der Deutschland und Westeuropa in ein Schlachtfeld verwandelt. (...) Die kleinen Abenteurer der Provokation vom 17. Juni konnten leicht hinter Schloß und Riegel gebracht werden. Großen Abenteurern, wie Reuter und Adenauer, muß man rechtzeitig in den Arm fallen, sonst stürzen sie ein ganzes Volk ins Unglück, ehe sie dingfest gemacht werden."
"Thema des Tages" bei der "Täglichen Rundschau" sind "Blutige Profite der Börsenhyänen": "Die Monopolherren, die schon so viele Millionen Menschenleben auf dem Gewissen haben, zögern keinen Augenblick, Deutschland zum Herd eines dritten Weltbrandes zu machen, wenn sie sich davon Maximalprofite versprechen. Schon mehrere Tage vor der Provokation in Berlin und in der DDR haben die Aktien der in der DDR enteigneten Konzerne an den westdeutschen Börsen stark angezogen. Die Monopolisten haben sich damit als Hintermänner der Provokationen entlarvt. [...] Die blutbefleckten Rüstungsfabrikanten haben sich offensichtlich in der Hoffnung gewiegt, die früher von ihnen beherrschten Werke in Besitz zu nehmen und die Arbeiter der DDR wieder als Lohnsklaven auszubeuten. Der Zusammenbruch ihrer Hoffnungen kam in den weichenden Börsenkursen deutlich zum Ausdruck. Als schlaue Spekulanten haben aber die Drahtzieher der Aktion ihre Aktien zu den erhöhte Kursen wieder rechtzeitig verkauft. Die Geschichte der Spekulation lehrt, daß an Nonvaleurs, d. h. an praktisch wertlosen Papieren, am meisten verdient wird. Eine Kurssteigerung von 6 auf 9 Prozent bei Conti-Gas bedeutet einen Profit von 33 Prozent! Die Mordtaten des 17. Juni haben sich für die Börsenhyänen gelohnt."
|
|
|