23. Juni 1953 (Dienstag) - Presseschau
Pressestimmen West:
Annamarie Doherr von der "Frankfurter Rundschau" geht in ihrem Kommentar "Kompromittierte SED-Regierung" auf die Erklärung des ZK vom Vortag, verbunden mit der angekündigten Vernichtung der Provokateure, ein: "Die Methode "Zuckerbrot und Peitsche" ist allzu abgenutzt, als daß sie noch Eindruck machen könnte. Aber dies ist nicht einmal das Wichtigste. Entscheidend bleibt, daß der Kreml die SED als Partei weiter zu stützen scheint und sie mit einer billigen Selbstkritik nach bolschewistischem Muster davonkommen läßt. Das Kriterium für die Aufrichtigkeit des Semjonow-Kurses in der Deutschlandpolitik ist nicht der Abbau militärischer und wehrwirtschaftlicher Positionen, von denen man jetzt im Kreml erfahren hat, daß sie im Ernstfalle doch nicht zu halten sind, sondern wieweit es der SED künftig gestattet sein wird, die überwältigende Mehrheit der Sowjetzonenbevölkerung weiter zu beherrschen und zu terrorisieren."
Junius von der "Süddeutschen Zeitung" aus München warnt unter der Überschrift "Hinter einer brüchigen Fassade" vor einem Gesichtsverlust der Sowjets: "Kein Zweifel, durch das Ereignis vom 17. Juni wird die Politik des Ostens wie die des Westens einer Probe unterworfen, möglicherweise sogar einer Umbildung. Auf welche Art es Geschichte machen wird hängt von der Sowjetunion ab und davon, inwieweit der Westen ihr gestattet, sich aus den Belastungen durch das SED-Regime ohne Gesichtsverlust zu lösen. Die Versuchung liegt nahe, den Sowjets durch Dramatisierung und übersteigernde Heroisierung des Vorgangs kurzfristig einen Vorteil abzugewinnen. Man sollte dieser Verlockung widerstehen und abwarten, ob Moskau an einer Entspannung liegt. Läßt man Moskau die Möglichkeit, über die SED moralisch zu siegen, so dient man der Entspannung. Nimmt man den Sowjets diese Chance, so wird der Konflikt verschärft. In dem gleichen Maße, in welchem der Westen den Männern im Kreml das Gefühl eingibt, daß ihnen jeder weitere Schritt zur Normalisierung als Schwäche ausgelegt werden wird, muß sich deren Widerstand versteifen. Was aber wäre es jetzt nutze, die Sowjets durch ein Gerede von Stärke oder Schwäche an die Seite eines abgewirtschafteten Regimes in ihrer Zone zu drängen, wider Willen vielleicht und im selben Augenblick, da sie zeigen könnten, ob sie es nicht in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse für richtig halten, die Pferde zu wechseln."
"Die Welt" aus Hamburg beschäftigt sich in ihrem Kommentar "Was wir erfahren müssen" mit den Toten des Aufstands: "Das SED-Zentralkomitee, folgsamer Schüler der leninistisch-stalinistischen Lehre, bemüht sich zu beweisen, daß es auch das System der Selbstkritik, der Selbstbezichtigung in gleich vollkommener Art beherrscht wie seine Kollegen in den anderen Satellitenstaaten. So hat es auch einen Beschluß gefaßt, in dem es heißt: "Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter." Wen will das Zentralkomitee mit solchen Phrasen überzeugen? Der Mittwoch hat eine Schuldfrage aufgerollt. Sie geht aber nicht in die Richtung, in die sie das Zentralkomitee dirigieren möchte. Sie lautet vielmehr: Wer ist für die Todesopfer des Mittwochs verantwortlich? Auch bei dieser Fragestellung ist die Antwort: Die Partei, und mit ihr all jene, die sich an sie gehängt haben, um an der durch Terror geschaffenen Macht zu bleiben. Daß die Dinge so und nicht anders liegen, das wollen aber die SED und ihre Freunde auch heute noch nicht wahrhaben."
"Ungebrochen" empfindet "Die Neue Zeitung" aus Berlin die Moral der Bevölkerung und beschäftigt sich mit den Führungsebenen in der DDR: "Offensichtlich sind wir in eine Periode der Manöver eingetreten. Es manövriert einerseits die SED um ihre Existenz zu behaupten, und zwar sowohl vor den Arbeitern, als auch in erster Linie vor den Sowjets selbst. Es manövrieren die Sowjets, deren Deutschlandpolitik sich als ungangbar herausgestellt hat, die durch den Einsatz ihrer Truppen völlig das Gesicht verloren haben und sich nun bemühen müssen, es in irgendeiner Weise wiederzugewinnen. Es manövrieren die Satellitenparteien der Ost-LDP, Ost-CDU und Nationale Demokraten, weil sie glauben, in dieser Phase des Überganges ihre Stellung wieder zu einer mehr selbständigen machen zu können. Es vollzieht sich ein Ringen vieler Gruppen im Hintergrund und es zirkulieren die Personenlisten mit den möglichen Ministern einer neuen Regierung. Der Grundzug aller dieser verschiedenartigen Manöver und Kombinationen besteht in der Übereinstimmung aller Beteiligten, so wie bisher kann es nicht weitergehen. Die Politik muß in wesentlichen Dingen geändert werden. Die nächste Entwicklung wird zeigen, welches neue Kind die Sowjets bei diesen Kreiß-Bewegungen entbinden werden."
Pressestimmen Ost:
Unter dem Titel "Die Provokateure und Mörder verwischen die Spuren ihrer Verbrechen" benennt W. Folger in der "Täglichen Rundschau" die "wahren" Anstifter: "Kennzeichnend genug ist schon allein die Tatsache, daß während der provokatorischen Ausschreitungen im demokratischen Sektor von Berlin, Jakob Kaiser, einer der führenden Organisatoren von Sabotagehandlungen, Provokationen und Spionagemanövern in einem Sonderflugzeug nach Westberlin kam und über den Rundfunksender RIAS zu Gewalttaten gegen die Bevölkerung der DDR und die Staatsorgane aufrief. Ähnliche Aufrufe kamen auch von Adenauer, Reuter, Scharnowski und anderen Abenteurern. Das alles zeigt eindeutig, daß die Verantwortlichen für die in einer Reihe von Städten der DDR und im demokratischen Sektor von Berlin verübten Anschläge auf öffentliche Gebäude und Warenhäuser, für die Brandstiftungen in Bahnhöfen und Handelsbetrieben und für die Überfälle auf die friedliche Bevölkerung und Vertreter der Staatsorgane nicht nur die unmittelbar an diesen Provokationen beteiligten Leute zu tragen haben, sondern vor allem auch die Anstifter und Organisatoren aus Bonn und Westberlin. Es ist klar ersichtlich, daß es keinesfalls zu Straßenunruhen und Ausschreitungen verbrecherischer Elemente gekommen wäre, wenn diese Abenteurer nicht ihre schmutzigen Hände im Spiel gehabt hätten."
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